Die Unterrichtsstunden 1/4
Die Schule als Spiegel der Welt
Ich erhielt eine E-Mail von einem Freund mit einem Anhang, die für die weite Verbreitung bestimmt war. Keine Unterschrift, kein Kontext: Das löste zunächst eine gewisse Abneigung in mir aus. Dennoch öffnete ich das Dokument.
Es beschrieb das vermeintlich „egalitäre“ Experiment einer Mittelschulklasse, dargestellt als Miniaturversion unserer Gesellschaft – natürlich eine stark karikierte Darstellung.
Beim Lesen wurde mir klar, dass sich genauso gut das Gegenteil beweisen ließe.
So kam ich auf die Idee, diesen Text anhand von vier pädagogischen Experimenten eines Wirtschaftslehrers neu zu schreiben. Er lädt seine Schüler ein, die wichtigsten Modelle, die unsere Nationen prägen, aus erster Hand zu erfahren: absolute Gleichheit, reines Leistungsprinzip, das Gleichgewicht zwischen beiden und schließlich das Bündnis der Kräfte im Dienste eines gemeinsamen Ideals.
Ein Experiment pro Tag.
Heute:
Die egalitäre Klasse
In einer ruhigen Schule lebte ein Wirtschaftslehrer, ein weiser Mann, dessen Neugierde die jungen Leute gleichermaßen amüsierte und beunruhigte.
Eines Morgens erklärte er ihnen:
„Der Sozialismus besagt, dass alles geteilt werden soll, damit niemand arm ist. Der Kapitalismus hingegen besagt, dass jeder nach seinen Anstrengungen ernten soll.“ Sofort brach Begeisterung in der Klasse aus.
„Es lebe das Teilen!“, rief einer.
„Schluss mit der Ungerechtigkeit! Wenn jeder den gleichen Anteil hat, sind alle glücklich!“, fügte ein anderer hinzu. Der Lehrer lächelte verschmitzt.
„Sehr gut. Wir werden also im Sozialismus leben. Für eure nächsten Noten werde ich den Klassendurchschnitt nehmen, und jeder wird das gleiche Ergebnis haben. So gibt es keinen Neid mehr, keine Ungleichheit mehr.“ Die Schüler applaudierten; das Experiment schien eine perfekte Welt zu versprechen. Die erste Klausur stand an. Der Durchschnitt lag bei 13. Diejenigen, die sich angestrengt hatten, fühlten sich verraten, während die Abgelenkten jubelten. Bei der zweiten Klausur hatte die Begeisterung nachgelassen.
„Was bringt es, zu arbeiten, wenn die Anstrengung des einen die Faulheit der anderen nährt?“, sinnierte der Eifrigste.
Der Durchschnitt sank auf 9.
Beim dritten Schüler breitete sich Apathie wie ein Nebel aus.
Niemand las, lernte oder träumte auch nur davon, besser zu werden.
Der Durchschnitt stürzte auf 4 ab; die Klasse hatte vollkommene Gleichheit erreicht … in der Mittelmäßigkeit.
Der Lehrer schloss sanft.
„So ist es, wenn die Früchte der Arbeit nicht mehr dem gehören, der sie geerntet hat. Wenn alles allen gehört, sät niemand mehr. Und bald gibt es weder Anstrengung noch Ernte.“
Moral.
Wenn jeder ohne Maß erhält, verkümmert die Anstrengung und das Talent schlummert.
Gleichheit befriedigt Begierden, aber erstickt den Ehrgeiz, und aus der Gerechtigkeit der Verteilung entspringt oft geistige Armut.
Anmerkung: Was für eine Klasse gilt, gilt auch für eine Nation. Schauen Sie sich Frankreich an, das im Namen der Gleichheit oft schnell dazu neigt, alles abzuwerten, und dabei vergisst, dass Fortschritt auf Leistung und dem Wunsch nach Exzellenz beruht.